Mutterschaft im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr.

Meine Dissertation »Zwischen Norm und Natur. Bildliche und schriftliche Konzepte von Mutterschaft im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr.« möchte die Ideale und Wertvostellungen rekonstruieren, die in diesem Untersuchungszeitraum in Bezug auf mütterliches Verhalten und Fühlen vorherrschten. Ein Schwerpunkt liegt auf der Frage, ob und auf welche Weise mütterliche Eigenschaften in den Quellen als angeboren/natürlich bzw. als anerzogen/kulturell gekennzeichnet werden.
Das Herzstück der Arbeit bildet eine systematische Erschließung der Mutterdarstellungen auf attischen Grabreliefs (ca. 430–310 v. Chr.), die mit Hilfe quantitativer Methoden nach ikonographischen Kriterien analysiert wurden. Der zweite Schwerpunkt liegt auf Frauengemach- und Grabpflegeszenen in der attischen Vasenmalerei. In jedem Kapitel werden zudem die einschlägigen Schriftquellen sowie Vergleichsbilder aus anderen Bildgattungen und aus dem mythischen Bereich vorgestellt und interpretiert. Basierend auf dieser Materialgrundlage folgt die Arbeit den athenischen Müttern »von der Wiege bis zur Bahre« und zeichnet auf diese Weise die Entwicklung der emotionalen Mutter-Kind-Bindung im Laufe einer Lebensspanne nach.
Obwohl die schriftlichen Zeugnisse keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass die Zuneigung einer Mutter zu ihrem Nachwuchs als natürlich und angeboren angesehen wurde, war die athenische Gesellschaft weit davon entfernt, Frauen zu ausschließlich dem Nachwuchs verpflichteten »Muttertieren« zu machen. Die Interaktion mit ihren Kindern war über den gesamten Zeitraum und über alle Bildgattungen hinweg von einer starken Zurückhaltung und somit vom Ideal der sophrosyne geprägt. Auch und gerade bei der Trauer galt das Gebot der Selbstbeherrschung. Diese Contenance war ein wichtiges Distinktionsmerkmal gegenüber unteren Schichten und Fremden und damit Statuszeichen. Die »natürliche Mutterliebe« wurde durch das athenische Wertesystems und seine sozialen Praktiken nicht direkt befördert, sondern reguliert und kultiviert. Ziel war aber nicht die Unterdrückung des Affektiven, sondern das harmonische Zusammenspiel zwischen Vernunft und Gefühl oder eben: zwischen Norm und Natur.

Univ.-Ass. Mag. Dr. Viktoria Raeuchle

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