Räume und Kulte im römischen Haus: Religion im sozialen Nahbereich zwischen Individuum und Gruppe
Projekt im Rahmen der kooptierten Mitgliedschaft der DFG-Forschergruppe 'Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive'.
Auf der Suche nach grundsätzlichen Konstanten im Hauskult wurde bisher die ausgeprägte Vielfalt der realisierten Lösungen kaum berücksichtigt. Entscheidend ist dabei nicht nur die Variabilität der Einzelelemente, sondern vor allem die Möglichkeit zu individuellen Optionen aufgrund der freien Kombinierbarkeit einzelner Grundbestandteile. Gerade in der Schaffung einer speziellen rituellen Topographie, d.h. die auf ein Zusammenspiel von individueller Initiative und Gruppentraditionen basierende Lokalisierung von Kulteinrichtungen im Haus, zeigt sich die Originalität der kultischen Aktivitäten im Haus.
Konkret soll in einer Analyse der aussagekräftigen Befunde in der Kernzone des Imperium Romanum (Rom, Ostia, Vesuvstädte) eine an der religiösen Praxis orientierte Darstellung individueller Optionen für Religion im Haus entstehen. Grundlage der Studie ist eine Betrachtung der Häuser nach Größe, Integrationsgrad und Komplexität, um Kontrollmöglichkeiten für den Zutritt bzw. die Bewegung im Raum und eine Abstufung der Zugangsmöglichkeiten im Hauskontext zu ermitteln. Aufgrund der Lage der fest installierten Kulteinrichtungen (Lararien, sacella, Altäre) ist dadurch eine Abstufung ritueller Aktivitäten mit den Koordinaten 'Kontrolle' und 'Zugänglichkeit' möglich. Ein wichtiger Vorteil dieser Vorgehensweise ist zudem, dass eine Abkehr von der strikten Typologisierung römischer Wohnbauten (Atriumhaus, Mietshaus etc.) möglich ist. Als Korrektiv dieser am architektonischen Befund gewonnenen Ergebnisse sollen anschließend das mobile auf Kulte verweisende Material analysiert werden. Zudem sind die verschiedenen Optionen für Kultempfänger im Haus aufgrund des Befund- und Fundmaterials (Statuen, Wandmalerei) zu berücksichtigen.
Durch die Individualisierung der Häuser mit ihren Kulttopographien wird zudem die Historisierung der Hauskulte im Sinne einer dem Individuum oder der Kleingruppe/familia verantworteten Dynamik möglich, die bisher weitestgehend unterblieb, da man von einer 'italischen Grundkomponente' oder ähnlichen statischen Modellen beim Hauskult ausging.
Mit dem Projekt 'Raum und Kult' wird die religiöse Gestaltung des Hauses als des sozialen Nahbereiches untersucht. Die Analyse der Kulttopographie von Einzelhäusern soll dabei dazu verhelfen, die kultischen Praktiken im Haus zwischen Option und Routine zu verorten und darstellbar zu machen: In Folge einer Charakterisierung der Kulteinrichtungen nach Zugänglichkeit und Kontrolle im architektonischen Kontext lässt sich die hohe Variabilität der Lokalisierung nicht nur räumlich, sondern auch funktional darstellen. Gründe für die Anordnung im Haus sowie deren Zusammenstellung sind dabei im Spannungsfeld zwischen individuellen 'Vorlieben' und verschiedenen Traditionssträngen bzw. Erwartungshaltungen des sozialen Umfeldes an den Auftraggeber/Besitzer/Organisator zu sehen. Aufgrund der dezidierten Abkehr von einer Suche nach altitalischen bzw. allgemeinen Grundbestandteilen des 'Hauskultes' zugunsten einer historischen Betrachtungsweise kann grundsätzlich das Potential für Veränderungen in allen Komponenten (räumlich, funktional, materiell) sichtbar gemacht werden. Dabei ist die Dynamik der individuellen Optionen auch konkret im materiellen Befund nachzuzeichnen, z. B. anhand der häufigen baulichen Änderungen bzw. Übermalungen gerade in Kultkontexten, die auf individuelle Initiative zurückgehen müssen.
Univ. Prof. Dr. Günther Schörner (Guenther.Schoerner@univie.ac.at)