Zerstörungen des Vierkaiserjahres 69 n. Chr. und des Bataveraufstandes 70 n. Chr. in den germanischen Provinzen und in Raetia – historiographische Projektion oder archäologische Evidenz?
Auf den Tod von Kaiser Nero 68 n. Chr. folgten kriegerische Auseinandersetzungen um die Macht zwischen vier Thronanwärtern. Nach dem Bericht des Historikers Tacitus waren die Provinzen am Rhein und Raetia von diesen Konflikten direkt betroffen. Tatsächlich wurden in zahlreichen römischen Militärlagern und auch Zivilsiedlungen in den Provinzen Germania inferior, Germania superior und Raetia Brandschichten dieser Zeit ausgegraben. Entsprechend der historiographischen Tradition wurde deren Großteil den Unruhen 69/70 n. Chr. zugeschrieben. Aufgrund der vorherrschenden Holzbauweise waren Schadensfeuer damals allerdings an der Tagesordnung und grundsätzlich unterscheiden sich deren archäologische Überreste nicht von denen kriegerischer Zerstörungen. Trotzdem haben einige Wissenschaftler versucht, Kriterien für ihre Unterscheidung zu definieren. Anhand der Analyse der Befunde aus sicher kriegerisch zerstörten Stätten wie einiger Militärlager in Niedergermanien verfolgt mein Projekt als erstes das Ziel, den Katalog der charakteristischen Merkmale von Zerstörungshorizonten neu zu bewerten und zu erweitern. In Kombination mit neuen Erkenntnissen zu einigen der betroffenen Fundplätze soll dies im Anschluss die Erstellung eines Katalogs aller römischen Stätten in den germanischen Provinzen und in Raetia mit überzeugenden Überresten von kriegerischen Zerstörungen der Jahre 69/70 n. Chr. ermöglichen.
Dabei steht nicht nur der kausale Hintergrund, sondern auch die chronologische Einordnung der betroffenen Brandschichten auf dem Prüfstand. Da die Funde aus den vermeintlichen Zerstörungsschichten 69/70 n. Chr. oft als fix datierte Referenzensembles für die Datierung neu ausgegrabener Befunde herangezogen werden, ist dies einer der Kernpunkte der Studie. Jüngere Untersuchungen zu einer der wichtigsten datierenden römischen Fundgruppe dieser Zeit, der südgallischen Terra Sigillata, ermöglichen nicht nur eine präzisere Chronologie der betreffenden Brandschichten, sondern auch Resultate zu Aspekten wie Unterschieden in der Versorgung der untersuchten Provinzen mit diesem weit verhandelten Tafelgeschirr. Methodisch dienen die Funde aus Brandschichten des Bataveraufstandes 70 n. Chr. in einigen Militärlagern am Niederrhein als fest datierte Vergleichskomplexe für die mittels statistischer Methoden vorgenommene zeitliche Zuordnung der vermuteten bzw. strittigen Zerstörungshorizonte des Vierkaiserjahres in Obergermanien und Raetia.
Hauptziel dieses Projekts ist somit, zum ersten Mal ein vollständiges Bild der tatsächlich archäologisch nachweisbaren Auswirkungen des Bürgerkrieges 69 n. Chr. auf die Militärlager und Siedlungen in den Rheinprovinzen und Raetia zu erhalten. Die anhand des vergleichenden Studiums der Orte mit gesicherten und vermeintlichen Zerstörungsbefunden gewonnen Erkenntnisse sollen schließlich in einem letzten Schritt eine profunde Evaluierung eines Brandschutthorizonts der Zeit um 70 n. Chr. in Bregenz ermöglichen, welcher das einzige bisher bekannte Zeugnis einer vermeintlichen Zerstörung der Bürgerkriegsjahre auf österreichischem Boden darstellt.
Publikation:
- J. Kopf, Per Raetiam inrupere: Zerstörungen des Jahres 70 n. Chr. in Raetien revisited. In: G. Grabherr / B. Kainrath (Hrsg.), Colloquium Veldidena 2022. Raetia und Noricum. Bevölkerung und Siedlungsstruktur. Akten der Tagung vom 20.–22. April 2022 in Innsbruck, IKARUS 11 (Innsbruck 2024) 143–165.