Rezeption der minoisch-mykenischen Kunst im 20. Jahrhundert

Projektträger: Institut für Klassische Archäologie

Projektleitung: ao.Univ.-Prof. Mag. Dr. Fritz Blakolmer

Abb. 1: Leon N. Bakst, Bühnenbildentwurf für Phaidra (nach A. Farnoux, Archaiologia & Technes, 86, März 2003, 39 Abb. 9).

Die ab 1870 von Heinrich Schliemann und seit 1900 von Arthur Evans und anderen freigelegten Denkmäler der bronzezeitlichen Ägäis fielen in die intellektuell bewegten sowie künstlerisch innovativen Jahrzehnte des europäischen "Fin de Siècle", als der Neoprimitivismus und eine revoltierende Befreiungsbewegung der Kunst in Form, Stil und Inhalt zur Blüte gelangten. Dieses zeitliche Zusammentreffen der Entdeckung einer manieristisch anmutenden, von Blumenlandschaften und Spiralornamentik geprägten Kunst des frühägäischen "Homo ludens" mit einem auf ähnlichen Vorlieben beruhenden künstlerischen Ausdruck der europäischen Avantgarde ließ in der Forschung bereits des öfteren einen kausalen Zusammenhang vermuten. Einerseits könnten zahlreiche Bildwerke und Raumgestaltungen des Jugendstils durch Denkmäler der minoisch-mykenischen Welt beeinflußt worden sein, andererseits hätten Rekonstruktionsvorstellungen kretisch-minoischer Architektur sowie Wandmalereien und nicht zuletzt auch Fälschungen durch zeitgenössische künstlerische Tendenzen des "Modern Style" eine gewisse Prägung erfahren können.

Zahlreich sind die Beispiele für eine Rezeption der frühägäischen Spiralornamentik und der markanten minoischen Säulenform (Abb. 1) in Bildwerken des Jugendstils, des "Modern Style" und des "Art Nouveau". Unübersehbar und in Einklang mit Aussagen des Künstlers dienten dem jungen Oskar Kokoschka Funde aus Troia und Mykene als Inspirationsquelle für seine Graphiken und vor allem Porträts, deren "erstarrte Züge eines Totenkopfes ... mit ihren seelischen Tätowierungen" (J. Hodin) eindringlich an die schimmernden, verbeulten Goldmasken aus Mykene in Schliemanns Publikationen erinnern (Abb. 2-3). Als aufschlußreich erweist sich auch das von Kokoschka expressis verbis als "mykenisch" bezeichnete Porträt des Ehepaars Tietze (Abb. 4): Ähnelt "der Herr Doktor" einem "Löwen" - so Kokoschka offensichtlich in Anlehnung an das Löwenkopfrhyton aus Mykene (Abb. 5 a) -, so titulierte er "die gnä' Frau" nicht zufällig als "Eule"; anthropomorphe Fundobjekte aus Troia (Abb. 5 b-c) bestätigen auch diesen Eindruck und wurden bereits von Schliemann fälschlich als "eulenförmig" definiert.

Kokoschka. Die Gemälde 1906-1929 [1995] 31, Nr. 52).

Abb. 3: Goldmaske aus Schachtgrab IV, Mykene (nach C. Schuchhardt, Schliemanns Ausgrabungen [1890] 264 Abb. 234).

Was waren jedoch die Gründe für diese "Kretomanie" im europäischen Jugenstil? Ein wesentlicher Aspekt bei einem künstlerischen Anknüpfen an minoisch-mykenische Bilder, Motive und Stiltraditionen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dürfte deren un-klassisches Erscheinungsbild gewesen sein, besitzt doch die frühägäische Kunst Charakteristika und Eigenschaften, die in deutlichem Kontrast zu jenen des klassischen Altertums stehen. Im Widerstreit der Avantgarde-Künstler gegen den traditionalistischen Klassizismus kam ihnen die zügellose Bildwelt der Altägäis, die "Kunst der Unruhe" und des "exzentrischen Ornamentes" dieser "versunkenen Märchenwelt", überaus gelegen. Es sind nicht sonderbare Ausnahmefälle, die hier aufgegriffen werden konnten, sondern das Typische frühägäischer Formensprache konvergierte in vielerlei Hinsicht mit dem Wesen und den Intentionen der künstlerischen und intellektuellen Avantgarde des "Fin de Siècle".

Abb. 4: Oskar Kokoschka, Doppelporträt Hans und Erika Tietze, 1909 (nach Winkler - Erling a.O. 19, Nr. 35).

Abb. 5 a: Goldenes Löwenkopfrhyton aus Schachtgrab IV in Mykene (nach C. Schuchhardt, Schliemanns Ausgrabungen [1890] 279 Abb. 249); b: Bleiidol aus Troia (nach Schuchhardt a.O. 88 Abb. 63); c: Anthropomorphes Gefäß aus Troia (nach Perrot - Chipiez VI [1894] 653 Abb. 295).

Vermeintliche Regellosigkeit und Irrationalität im Bild stellen bis heute Attribute insbesondere des kretisch-minoischen Formgedankens dar, dessen Rezeption zur Zeit des "Fin de Siècle" viel mit einer Sehnsucht nach Andersartigkeit und Ursprünglichkeit, nach einer Rückbesinnung auf den "Zauber" und das "berückende Schauspiel einer schöneren Welt", so der Archäologe Valentin Müller, zu tun hatte und eine ägäische Kontrastsphäre zur griechischen Klassik wie auch zum europäischen Klassizismus präsentierte. Statt den Blick auf die "eigene" Frühzeit, sei sie keltisch, germanisch oder awarisch, oder auf fremde Kontinente wie nach Japan, Ozeanien, Afrika oder Lateinamerika richten zu müssen, ließ sich diese Sehnsucht nach einem "Primitivismus" ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts auch mit Hilfe einer frischen, von forschungsgeschichtlichen Traditionen unbelasteten Kultur der fernen vor-klassischen Vergangenheit am Rande des europäischen Kontinentes vermitteln, und dies noch dazu auf dem Boden Griechenlands. Eine fremde, antike "Gegenwelt" gewann Konturen, die ihr - rückblickend beurteilt - zwar nicht immer gerecht wurden, die jedoch in der Gelehrtenwelt und Öffentlichkeit wie auch der Avantgarde-Kunst eine willkommene Rolle einnahmen.
So überzeugend viele ikonographische Entsprechungen und so bestechend Entlehnungen insbesondere aus der minoisch-mykenischen Ornamentsprache in Werken des Jugendstils auch erscheinen mögen - bei so manchen in der Archäologie und der Kunstgeschichtsforschung vermuteten Beispielen einer Rezeption altägäischer Kunst dürfte es sich trotz allem lediglich um zufällige "Koinzidenzen" handeln, geht doch das Entstehungsdatum vieler dieser Bildwerke der Moderne dem Funddatum der mutmaßlichen ägäischen Parallelen deutlich voraus. Hinzu kommt das Faktum, daß die wesentlichen Charakteristika des "Modern Style" zeitlich bereits eindeutig vor der Entdeckung der relevanten altägäischen Kunstwerke ausgeprägt waren, sodaß eine maßgeblich prägende Funktion der Entdeckungs- und Forschungsgeschichte der minoisch-mykenischen Zivilisation beim Entstehungsprozeß des Jugendstils ausgeschlossen werden darf.

Abb. 6: Leon N. Bakst, Titelbild zum Programmheft Debussy, Nachmittag eines Fauns, 1912 (nach H. H. Hofstätter, Jugendstil. Druckkunst [1968] Abb. S. 279).

Abb. 7: "Affenfresko" aus Akrotiri, Thera, geborgen im Jahre 1970 (nach N. Marinatos, Art and Religion in Thera [1984] 115 Abb. 81).

Minoischen Wandmalereien verblüffend nahe kommt etwa die tektonische, ornamental strukturierte Hintergrundgestaltung von Gemälden des Jugendstils und Erzeugnissen des Kunstgewerbes. Betrachtet man beispielsweise den verspielten Faun vor ornamental segmentiertem Bildgrund in der Grafik von Leon N. Bakst (Abb. 6) aus dem Jahre 1912, so meint man, einen deutlichen Vorbildcharakter der Affen in bunter Landschaft in einem erst im Jahre 1970 freigelegten kykladischen Wandbild aus Akrotiri auf Thera (Abb. 7) zu erkennen. Dies kann ebensowenig der Fall gewesen sein, wie auch Gustav Klimt für seinen zwischen 1905 und 1910 konzipierten Spiralgrund im Fries des Palais Stoclet in Brüssel (Abb. 8) nicht den erst im Jahre 1914 publizierten spätminoischen Becher mit Helm- und Schildmotiv vor tektonischer "Spiraltapete" aus Knossos (Abb. 9) verwendet haben kann. Die Aufzählung solcher "Koinzidenzen" bzw. "unmöglichen Rezeptionen" könnte endlos fortgesetzt werden und läßt uns nach anderen Erklärungen für manche oft verblüffenden und vielfältigen Ähnlichkeiten auf der Ebene künstlerischen "Formwollens" in der Bildsprache der ägäischen Bronzezeit und des Jugendstils suchen. Hier von bloßem Zufall zu sprechen, wäre zwar legitim, doch könnte ein kulturgeschichtliches Erklärungsmodell, das dem zivilisatorischen Umbruchcharakter, einer Emanzipation von überkommenen Stereotypen Rechnung trägt, für die offensichtlichen Entsprechungen im künstlerischen Ausdruck ebensogut seine Gültigkeit erweisen. Suchten die Künstler der Avangarde während des "Fin de Siècle" nach neuen Wegen, die in bewußtem Widerspruch zu den klassizistischen Traditionen standen, so zeichnet sich die frühägäische Bildsprache insbesondere im neopalatialen Kreta durch eine Emanzipation von der ostmediterranen "Geradvorstelligkeit" aus und leitete gewissermaßen ebenfalls eine Aufbruchszeit ein.

Abb. 8: Gustav Klimt, Werkvorlage zum Fries im Palais Stoclet, 1905-1910 (Ausschnitt) (nach S. Partsch, Klimt. Leben und Werk [o.E.] 189 Abb. 61).

Abb. 9: Polychromer Henkelbecher aus Isopata, Kreta (nach A. Evans, Archaeologia 65, 1914, 26 Abb. 37 a-b).

Projektergebnisse:

  • F. Blakolmer, Die Wiederentdeckung der minoisch-mykenischen Kunst zur Zeit des Fin de siècle. Zu Rezeption und 'Koinzidenz' im Jugendstil, KölnJb 32, 1999, 477–502.
  • F. Blakolmer, Überlegungen zur Rezeption minoisch-mykenischer Kunst zur Zeit des Jugendstils, in: Akten der Tagung: Antike Tradition in der mitteleuropäischen Architektur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Prag und Litomyl, 10.–15. November 1998, Studia Hercynia 3 (Prag 1999) 133–141.
  • F. Blakolmer, Zum Kenntnisstand der frühägäischen Denkmäler zur Zeit des 'Fin de siècle', in: J. Bouzek u.a. (Hrsg.), Akten der Tagung "Antike Tradition in der Architektur und anderen Künsten um 1900", Studia Hercynia 8 (Prag 2004) 4–19.
  • F. Blakolmer, Altägäische Kunst, Primitivismus und Moderne: Aspekte künstlerischer Rezeption und Verwandtschaft, in: J. Bouzek u.a. (Hrsg.), Akten der Tagung "Antike Tradition in der Architektur und anderen Künsten um 1900", Studia Hercynia 8 (Prag 2004) 45–58.
  • F. Blakolmer, The Arts of Bronze Age Crete and the European Modern Style: Reflecting and Shaping Different Identities, in: Y. Hamilakis – N. Momigliano (Hrsg.), Archaeology and European Modernity: Producing and Consuming the 'Minoans', Creta Antica 7 (Catania 2006) 219–240.
  • F. Blakolmer, "Der sinnliche Reiz der Zerstörung". Fritz Wotruba und die antike Plastik, in: A. Husslein-Arco – A. Weidinger (Hrsg.), Fritz Wotruba. Einfachheit und Harmonie. Skulpturen und Zeichnungen aus der Zeit von 1927–1949, Ausstellungskatalog Belvedere Wien, 24. April – 23. Juli 2007 (Wien 2007) 23–30.
  • F. Blakolmer – J. Bouzek, Bericht über das Symposium 'Zeit-Brücken: Art Déco, Kubismus, Neoklassizismus und Antike' in Prag 2008, Studia Hercynia 12, 2008, 101 f.
  • F. Blakolmer, Die "Rekonstitution" des 'Palace of Minos' in Knossos im Spiegel des Art Déco. Und warum Evans recht hatte, Studia Hercynia 12, 2008, 103–116.
  • F. Blakolmer, Die Erforschung der Altägäis in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, in: J. Bouzek u. a. (Hrsg.), Akten des Kolloquiums "Zeitbrücken – Art Déco, Kubismus, Neoklassizismus und die Antike", April 2008 in Prag, Studia Hercynia 13 (Prag 2009) 5–18.
  • F. Blakolmer, Die Formensprache des Art Déco und die minoisch-mykenische Welt, in: J. Bouzek u. a. (Hrsg.), Akten des Kolloquiums "Zeitbrücken – Art Déco, Kubismus, Neoklassizismus und die Antike", April 2008 in Prag, Studia Hercynia 13 (Prag 2009) 23–36.
  • F. Blakolmer, Oi technes tis Kritis tin Epochi tou Chalkou kai to evropaiko Moderno stil: apeikasmata kai diamorfosi diaforetikon taftotiton, in: G. Chamilakis – N. Momigliano (Hrsg.), Archaiologia kai evropaiki neoterikotita paragontas tous «Minoites» (Athen 2010) 301–329 (in Griechisch).
  • F. Blakolmer, Images and perceptions of the Lion Gate relief at Mycenae during the 19th century, in: F. Buscemi (Hrsg.), Cogitata tradere posteris. The Representation of Ancient Architecture in the XIXth Century. Proceedings of the International Conference The drawing of ancient monuments in the XIXth century. Between technics and ideology (Catania, 25th November 2009) (Rom 2010) 49–66.
  • F. Blakolmer, Antikenrezeption vom Klassizismus bis zum Art Déco: Ägypten, Altägäis und Europa, in: A. Junová Macková – P. Onderka (Hrsg.), Crossroads of Egyptology. The Worlds of Jaroslav Cerný, Conference Egypt & Austria VI, Prague, 21st–24th September 2009 (Prag 2010) 133–152.
  • F. Blakolmer, "Das älteste Denkmal europäischer Skulptur". Das Löwentor von Mykene in Illustrationen des 19. Jahrhunderts, Internet-Zeitschrift Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie (http://farch.net) 54/XII/2010, Dezember 2010.
  • F. Blakolmer, Egyptian, Mesopotamian, Nuraghic, Gothic or Classical Greek? The Understanding of Aegean Bronze Age Monuments in the 18th-19th Centuries, in: T. Kajfez – M. Frelih – I. Lazar (Hrsg.), Meetingpoint Egypt. Conference Egypt & Austria VIII, Ljubljana, 25th - 28th September 2012 (in Druckvorbereitung).

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